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Serie

Die Macht des ersten Eindrucks

Was Du als Erstes über ein Thema hörst, kann sich unbewusst auf Deine Recherchen sowie Deinen Interviewstil auswirken - und erstaunliche Wendungen nach sich ziehen. In Teil 7 der Artikelserie "Psychologie im Journalismus" erfährst Du mehr über Reihenfolgeeffekte und bekommst Tipps für die redaktionelle Praxis.

Von Margarida Alpuim und Katja Ehrenberg

Unsortierte Bilder eines Wesens

Einführung

Journalistinnen und Journalisten investieren viel Zeit in die Planung des Aufbaus eines Interviews, in den Einstieg oder den Schluss eines Textes oder in die Gestaltung von Titel und Teaser. Trotz dieser hohen Sensibilität für die Auswirkungen auf ihr Publikum sind sich viele vielleicht nicht vollständig bewusst, wie sehr die Reihenfolge von Informationen auch ihren eigenen journalistischen Prozess beeinflusst: von der Auswahl der Schlüsselwörter, die für die erste Online-Suche verwendet werden, bis hin zur Reihenfolge, in der Menschen kontaktiert oder Orte besucht werden, dem Tonfall bei der Vorstellung eines Gasts, dem Bogen eines Interviews, der Formulierung kontroverser Themen und dem Fazit einer Geschichte. Hast Du Dich schon einmal entschieden, Aspekte oder ganze Standpunkte wegzulassen, auf die Du erst spät in der Recherche gestoßen bist, weil sie "nicht mehr so recht “hineinpassten"? Welchen Blickwinkel hätte Deine Geschichte bekommen, wenn Du diese Person früher getroffen oder von jenen Statistiken erfahren hättest? Wäre das neue Einkaufszentrum vielleicht „eine Bedrohung für die kleinen lokalen Unternehmen“ geworden, anstatt eine „längst fällige Investition in die Infrastruktur mit Beschäftigungsmöglichkeiten für die Anwohner“, oder umgekehrt?

In diesem Artikel…

  • …teilen wir einige zentrale Erkenntnisse, die psychologische Forschung über die Macht des ersten Eindrucks und weitere Reihenfolgeeffekte bei der Verarbeitung von Informationen über Menschen oder Themen hervorgebracht hat.

  • …werfen wir einen Blick darauf, warum und wie diese Effekte zustande kommen.

  • …diskutieren wir die Auswirkungen, die diese Effekte auf die verschiedenen Phasen journalistischen Arbeitens haben können, von der Recherche über die Gestaltung von Interviewfragen und Interviewbogen bis hin zum Storytelling.

Spoiler-Alarm: Menschen bilden sich erstaunlich schnell einen ersten Eindruck (1) - ein hochfunktionaler, intuitiver Prozess (2), der einer Reihe von Biases unterliegt, die uns das Gefühl geben, mit unseren Urteilen richtig zu liegen, selbst wenn wir das eindeutig nicht tun (3; siehe Artikel Nr. 1 dieser Serie).

Grundlagen: Wissenschaftlicher Hintergrund und klassische Erkenntnisse

1946 führte der polnisch-amerikanische Gestaltpsychologe Solomon Asch eine inzwischen berühmte Reihe von Experimenten durch, um systematisch und kontrolliert zu untersuchen, wie Menschen sich einen Eindruck von anderen bilden (4). In seinem Labor legte Asch den Versuchsteilnehmern eine von zwei Versionen von Eigenschaftslisten vor, die eine Person beschreiben, und bat sie, sich ein Bild von der Person zu machen. Beide Versionen enthielten genau die gleichen Eigenschaften, nur in umgekehrter Reihenfolge. In einer Versuchsbedingung lautete die Liste intelligent, fleißig, impulsiv, kritisch, stur, neidisch; in der anderen Bedingung hieß es, die Person sei neidisch, stur, kritisch, impulsiv, fleißig, intelligent. Als die Versuchspersonen der ersten Gruppe später nach ihrem Gesamteindruck gefragt wurden, charakterisierten sie die Person viel positiver als die der zweiten Gruppe. Dieser Effekt wurde als Primacy-Effekt bei der Eindrucksbildung bekannt: Die ersten Items hatten einen viel stärkeren Einfluss auf das Gesamtbild als die zuletzt präsentierten.

Diese und ähnliche Ergebnisse stützten Aschs Leithypothese, dass "das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile". Im Einklang mit allgemeinen Annahmen der Gestaltpsychologie war er davon überzeugt, dass Menschen ihre Sinneswahrnehmungen aktiv organisieren, indem sie diese neu aufgenommene Information mit ihrem Vorwissen verknüpfen, interpretieren und Schlussfolgerungen ziehen, um sinnvolle Erfahrungen in Form einer "guten Gestalt" zu erlangen. Mit dieser expliziten Annahme dynamischer Interaktionseffekte zwischen Input, Kontext und Vorwissen aus früheren Lernerfahrungen stand der Ansatz für ein völlig neues Verständnis des menschlichen Geistes und wird bis heute in der sozialen Kognitionspsychologie vertreten (5). Im Gegensatz zur streng behavioristischen Lerntheorie behauptet die Gestaltpsychologie, dass der Mensch viel mehr ist als das addierte Ergebnis unzähliger alltäglicher Lernerfahrungen; im Gegensatz zur Psychoanalyse können ihre Hypothesen durch kontrollierte und replizierbare Experimente getestet werden und stützen sich so auf solide wissenschaftliche Daten.

Man könnte natürlich argumentieren, dass die von Asch verwendeten Attribute unterschiedlich gewichtet werden, wenn sie in einen Gesamteindruck integriert werden, und dass die Listen daher kaum vergleichbar sind. Dies gilt insbesondere, wenn es um Kontexteffekte geht: Beispielsweise wird die Intelligenz einer darüber hinaus als "warm" beschriebenen Person anders konnotiert als die Intelligenz einer zusätzlich als "kalt" beschriebenen Person (4).

Aber auch wenn die Informationen auf einen einzigen Merkmalsbereich beschränkt sind, bleibt der Primacy-Effekt bestehen: Jones und Kollegen (6) ließen ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Person bei der Lösung eines Intelligenztests beobachten. In allen Versuchsbedingungen beantwortete diese Person 50% der Aufgaben richtig, aber die Bedingungen unterschieden sich in der Verteilung der richtigen und falschen Antworten über die Zeit: In einer Bedingung begann die Person mit vielen richtigen Antworten und machte dann immer mehr Fehler. In einer anderen Bedingung fing sie schlecht an und wurde dann besser, und in einer dritten Bedingung waren richtige und falsche Antworten zufällig über den Gesamtverlauf verteilt. Die Person wurde als intelligenter eingeschätzt, wenn sie einen guten Start hatte. Das war insofern überraschend, als ursprünglich angenommen wurde, dass eine sich im Laufe der Zeit verbessernde Leistung zu einem positiveren Urteil führen sollte als eine sich verschlechternde Leistung. Der Primacy-Effekt ist offenbar stärker als ein etwaiger solcher Effekt (6). Übrigens: Noch vor Asch hatte Lund (7) bereits 1925 gezeigt, dass Menschen leichter von Argumenten überzeugt werden, wenn sie zu Beginn präsentiert werden, und diese Erkenntnis hat schnell Eingang in Rhetorik und Propaganda gefunden.

Kurz und bündig:

Was wir zuerst erfahren, hat einen viel stärkeren Einfluss auf unser Urteil über eine Person oder ein kontroverses Thema als das, was wir später erfahren. Dieser Primacy-Effekt in der Eindrucksbildung wurde in einer Vielzahl von Studien wiederholt nachgewiesen (3). Er tritt unter anderem deshalb auf, weil die ersten Informationen als eine Art Anker und Weichensteller für die spätere Informationsverarbeitung dienen, indem sie nachfolgend aufgenommene Informationen entweder komplett ausfiltern oder deren Interpretation in bestätigender Weise beeinflussen (8, 9).

Wenn Forschende im Rahmen ihrer Studien nicht nach einem Eindruck oder Urteil fragen, sondern die Versuchspersonen bitten, sich an das zu erinnern, was sie gelernt haben, finden sie ebenfalls einen Vorteil für die ersten Items, aber gleichzeitig eine noch stärkere Tendenz, sich besonders gut an das zu erinnern, was zuletzt präsentiert wurde. Im Gedächtnis gibt es also Primacy- und, noch dominanter, Recency-Effekte (10).

Das hat zur Folge, dass der Gesamteindruck und das Urteil über eine Person oder ein Ereignis nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, woran man sich im Detail am besten erinnert. Damit kann es zu interessanten Diskrepanzen zwischen dem Gesamteindruck von einer Person oder einem Ereignis und den Fakten kommen, an die man sich erinnern kann (10). Sowohl bei der Eindrucksbildung und Urteilsbildung als auch im Gedächtnis hinterlässt das, was in der Mitte vorkam, die geringsten Spuren.

Übertragen auf das alltägliche Leben ist es also buchstäblich nur fair, dass z. B. die Reihenfolge des Auftritts beim Eurovision Song Contest und in vielen Jury-Sportwettbewerben oder bei politischen Debatten für Wahlen per Losverfahren bestimmt wird. Auch bei Verhandlungen - auf Flohmärkten, bei Immobilienverkäufen oder bei Gehaltsverhandlungen für Freelancer - hat die Partei, die als erste einen Preis vorschlagen darf, in der Regel einen erheblichen Vorteil, indem sie diesen als Anker und Bezugsrahmen setzt (11). Primacy-Effekte sind in vielen unterschiedlichen Studien und für viele unterschiedliche Kontexte und Bereiche zuverlässig nachgewiesen, darunter die wahrgenommene Fairness politischer Entscheidungen, die Verarbeitung politischer Nachrichten, Eignungsurteile in Bewerbungsverfahren, für die Bewertung moralischen Verhaltens oder sportlicher Leistungen (2, 12). Ebenso gibt es eine Präferenz für politische Kandidaten, Lebensmittel und andere Konsumgüter, die als erste in einer Reihe präsentiert werden (13). Insgesamt lässt sich zuverlässig feststellen, dass die Reihenfolge einen großen Einfluss auf die Eindrucksbildung, die weitere Informationsverarbeitung und das Urteilsvermögen hat, und dass Primacy-Effekte in der Regel stärker sind als Recency-Effekte, außer wenn es darum geht, was am Ende erinnert wird.

Warum und wie kommt es zu Primacy-Effekten?

Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum es zu Primacy-Effekten kommt. Erstens ist es kognitiv einfach. Wir nehmen die ersten Informationshäppchen schnell und bereitwillig auf. Wenn wir in diesem frühen Stadium bereits eine einigermaßen verlässliche Idee davon bekommen, wie jemand oder etwas ist, ist es unwahrscheinlich, dass wir viel zusätzliche Aufmerksamkeit oder kognitive Anstrengung investieren, nachfolgende Information besonders tief zu verarbeiten. Dementsprechend ist der Effekt stärker, wenn Menschen müde, abgelenkt oder nicht besonders motiviert sind, sich ein genaues Urteil zu bilden. Außerdem nimmt die Aufmerksamkeit mit der Zeit natürlicherweise ab, entweder aus Langeweile oder weil wir davon ausgehen, dass der andere der Norm gefolgt ist, die wichtigsten Aspekte an die erste Stelle zu setzen, was aber, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle zu spielen scheint (9).

Erklärungen, die sich auf motivationale Prozesse konzentrieren, besagen, dass wir unsere Vorstellungen von der Welt grundsätzlich gerne bestätigt sehen. Dies liegt nicht nur daran, dass bestätigende Information kognitiv leichter zu verstehen ist, und es sich angenehm anfühlt, wenn alles stimmig ist, was man so denkt. Dieser so genannte Confirmation Bias ermöglicht uns darüber hinaus, unser Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten oder zu steigern (siehe Artikel 1 dieser Serie). Erste Informationen sorgen dafür, dass wir sehr schnell eine solche Vorstellung und damit auch eine Erwartungshaltung aufbauen. Diese dient dann als Bezugspunkt für die Verarbeitung und Integration aller später aufgenommenen Informationen. Sobald wir eine solche innere Vorstellung gebildet haben, neigen wir entsprechend dazu, Informationen, die nicht damit übereinstimmen, umzudeuten, abzuwerten oder sogar zu ignorieren. Wir geben nur ungern zu, dass wir uns geirrt haben. Wenn nötig, bezeichnen wir die Quelle der widersprüchlichen Informationen auch als unglaubwürdig oder veraltet (3, 4, 8) oder denken uns ziemlich komplexe Erklärungen aus, warum eine "Ausnahme" aufgetreten ist (14). All diese Prozesse ermöglichen uns, unser Bild von der Welt aufrechtzuerhalten.

Im Einklang mit dieser Argumentation wurde gezeigt, dass Menschen mit einem starken Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit stärkere Primacy-Effekte zeigen, da diese ihr Bedürfnis nach schnellen, einfachen und klaren Antworten (im Kontrast zu Komplexität und Mehrdeutigkeit) befriedigen (15). Was den Umgang mit Inkonsistenzen angeht, funktionieren Vorannahmen, die auf ersten Eindrücken beruhen, ähnlich wie Vorannahmen, die auf anderen Formen von "Vorwissen" wie allgemeinen Stereotypen und Vorurteilen über Mitglieder bestimmter sozialer Gruppen beruhen (16).

Man kann argumentieren, dass die Präsentation verschiedener Aspekte eines Sachverhalts in Medienbeiträgen sehr ähnlich zu den Situationen ist, in denen Forschungsteams ihren Versuchspersonen unterschiedliche Informationen über einen Politiker, ein Ereignis oder ein kontroverses Thema dargeboten haben. Es ist davon auszugehen, dass die Reihenfolge, in der Informationen medial aufbereitet werden, die Meinungsbildung des Publikums stark beeinflusst. Reihenfolgeeffekte wirken jedoch nicht nur auf das Publikum, sondern auch auf die Journalistinnen und Journalisten selbst, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden.

Praktische Auswirkungen von Reihenfolgeeffekten im Journalismus

Praktische Auswirkungen von Reihenfolgeeffekten in der journalistischen Recherche und Produktion

Angesichts der oben zusammengefassten Forschungsergebnisse liegt die Vermutung nahe, dass der Eindruck, den Journalistinnen und Journalisten im Zuge eines Projektes von ihren Themen, Quellen und Protagonisten gewinnen, ebenfalls von Reihenfolgeeffekten beeinflusst wird und sich wiederum auswirkt auf:

  • die Reihenfolge, in der sie Fakten und Daten aufnehmen, recherchieren und integrieren;

  • die Reihenfolge, in der sie verschiedene relevante Orte besuchen oder mit Betroffenen mit unterschiedlichen Perspektiven sprechen;

  • den Interviewbogen, d.h. die Reihenfolge, in der sie verschiedene Aspekte eines Themas innerhalb eines Interviews ansprechen;

  • den Ton und das Framing der Geschichte, sowohl sprachlich (siehe auch Artikel Nr. 3 dieser Serie zur Macht von Worten) als auch visuell (siehe Artikel Nr. 5 über die Macht von Bildern), ebenso wie auf Prozesse in Schlussredaktion und Produktion.

Besondere Effekte von Reihenfolge und Kontext beim Stellen von Fragen

Reihenfolgeeffekte in der journalistischen Recherche: Suchet und Ihr werdet finden

Die Arbeit an einer Reportage beginnt manchmal ganz zufällig: Du stößt auf eine interessante neue Tatsache, Du lernst jemanden kennen, der von einem akuten Problem betroffen ist, Du erfährst von kontroversen Standpunkten zu einem Thema, die Du vorher nie in Betracht gezogen hast, und witterst eine Geschichte. Die Tatsache, dass Du so zum ersten Mal mit dem Thema in Berührung gekommen bist, wird sich höchstwahrscheinlich auf jeden weiteren Schritt deiner Recherche auswirken: Die Schlüsselwörter, die Du verwendest, um dich vertiefend ins Thema einzulesen, und die relevanten Statistiken, Interessengruppen, Expertinnen und Experten oder andere Fallgeschichten, die sie zutage fördern (z. B. wenn du "Einkaufszentrum + Bedrohung + lokale Geschäfte" oder "Einkaufszentrum + Außenbezirke + Geisterstadt" eingibst, anstatt "Einkaufszentrum + soziale Infrastruktur + Familienaktivitäten" oder "Einkaufszentrum + Wirtschaft + Jobchancen") .

Infolgedessen wird es wahrscheinlicher, dass Du zuerst mit Personen sprichst, die in diesen Quellen erwähnt oder zitiert werden, oder dass Du "relevante" Gemeinden besuchst, um mit der Bevölkerung dort zu sprechen, wobei "relevant" in der Regel bedeutet, dass sie Vorannahmen und Rahmung der Story bestätigen. Selbst wenn Du später bewusst nach anderen Ansichten suchst, mit Expertinnen oder Experten "von der anderen Seite" sprichst oder andere Orte besuchst, ist der Anker wahrscheinlich gesetzt, und je mehr bestätigendes Material Du findest, desto mehr wird es den Ton deiner Geschichte bestimmen.

Natürlich ist Reihenfolge unvermeidlich: Irgendein Fakt, ein Vor-Ort-Besuch oder ein Blickwinkel wird an erster Stelle kommen müssen, und irgendwo musst Du mit deiner Recherche beginnen. Wenn Du Dir jedoch dessen bewusst bist, dass es solche Reihenfolgeeffekte gibt, und wenn Du sie besser verstehst, kannst Du ihren potenziellen Einfluss auf Deinen Arbeitsablauf besser reflektieren und ausgleichen. Das beginnt bereits mit der vorbereitenden Hintergrundlektüre und der Auswahl potenzieller Interviews oder Porträts. Alles, was gegen den Confirmation Bias hilft (siehe Artikel Nr. 1 dieser Serie), funktioniert auch hier; weitere Ideen für weniger Voreingenommenheit findest Du im Abschnitt Tools und Tipps weiter unten.

Reihenfolgeeffekte bei der Gestaltung von Interviewfragen

Sobald Du ausgewählt hast, mit wem Du alles sprechen willst, sei es im Rahmen von Feld-Recherchen oder als Gast in Deiner Sendung, musst Du entscheiden: Wen triffst Du als erstes (oder moderierst Du als erstes an), was erwähnst Du als erstes, wenn Du die Person vorstellst, womit Du wiederum einen Anker und Rahmen für alles setzt, was später kommt? Und nicht zuletzt: Wie ordnest Du deine Fragen an, um einen guten Gesprächsbogen zu schaffen?

Glücklicherweise steht hier die Umfrageforschung vor ähnlichen Herausforderungen wie der Journalismus: (Wie) verändern die Anordnung und der Wortlaut von Fragen das Antwortverhalten der Befragten? In einer Reihe von kontrollierten Experimenten fand man heraus, dass sich die Antworten auf eine Frage je nach Position der Frage innerhalb eines Fragesets, d. h. je nach Reihenfolge, erheblich unterscheiden können, selbst wenn der Wortlaut der Frage vollkommen identisch war (einen guten Überblick über entsprechende Forschungsarbeiten findest Du bei (17) oder (18)). Der Effekt wird nicht so sehr durch die Position einer Frage an sich bestimmt, sondern durch den Inhalt der zuvor gestellten Fragen.

Um dies zu veranschaulichen, werfen wir einen Blick auf eine mittlerweile klassische Reihe von Studien aus der Zeit des Kalten Krieges (18): Wenn sie im Rahmen einer Umfrage zum ersten Mal gefragt wurden, ob sie finden, dass US-amerikanische Reporter in kommunistischen Ländern zugelassen werden sollten, stimmte eine große Mehrheit (70-90%) der Befragten zu, während nur etwa halb so viele dafür waren, Reporter aus kommunistischen Ländern in den USA zuzulassen. Wenn sie jedoch zuvor bereits nach der jeweils anderen Seite gefragt wurden, konvergierten die Werte zur Mitte hin, d.h. deutlich mehr Befragte stimmten zu, dass - auch - kommunistische Journalisten aus den USA berichten dürfen sollten, und deutlich weniger Befragte forderten, dass US-Journalisten aus kommunistischen Ländern berichten dürfen sollten. Es scheint, dass die Befragten ihre zweite Antwort aus Fairnessgründen überdacht haben, wenn sie zuvor „die andere Seite" betrachtet haben. Das ist an sich nicht überraschend, aber die Zustimmungsraten bei dieser Art von Fragen sind eben nicht mehr vergleichbar, sobald sie in andere Fragen zu verwandten Themen eingebettet sind. Der Vergleich von Antworten auf dieselbe Frage, die in verschiedenen Umfragen oder Interviews gestellt wurde, könnte zum Beispiel zu falschen Schlussfolgerungen über Veränderungen der öffentlichen Meinung führen (19).

Wie bereits oben erwähnt, können Primacy-Effekte zum Teil durch das Bedürfnis nach Konsistenz der eigenen Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen bedingt sein: Es fühlt sich gut an, wenn alles stimmig ist. Wenn Menschen in Interviews oder Talkshows eine Reihe von Fragen gestellt werden, versuchen sie ebenfalls, eine konsistente (und weniger eine besonders nuancierte und damit eventuell auf den ersten Blick in sich widersprüchliche) Meinung zu einem Thema zu vertreten, und passen ihre Antworten daher an ihre vorherigen Aussagen an. Ein "Ja" auf eine frühere Frage führt wahrscheinlich zu mehr „Ja’s“ auf ähnliche Folgefragen, verglichen mit einer Situation, in der diese späteren Fragen allein oder zuerst gestellt würden. Menschen unterscheiden sich in ihrem Bedürfnis nach Konsistenz und in ihrer Neigung zum Ja-Sagen, wobei manche eher dazu neigen, generell dem zuzustimmen, was in einer Frage vorgeschlagen wird (19) – solche „leading questions“ oder Suggestivfragen sollten im Journalismus ebenso vermieden werden wie in Umfragen (z. B. „Was halten Sie denn davon, dass die Regierung uns jetzt auch noch…?“).

Die Umfrageforschung zu Reihenfolgeeffekten hat gezeigt, dass es weiterhin darauf ankommt, wie allgemeine und spezifischere Fragen zum selben Thema angeordnet sind: Wenn man die Menschen zum Beispiel zuerst fragt, wie glücklich sie mit ihrem Leben insgesamt sind, und anschließend, wie glücklich sie mit ihrer Partnerschaft sind, ergeben sich ziemlich starke Korrelationen zwischen beiden Antworten. Wenn sie zuerst gefragt werden, wie glücklich sie mit ihrer Partnerschaft sind, und später, wie glücklich sie mit dem Leben insgesamt sind, ist die Korrelation zwischen beiden Antworten deutlich geringer. Die Autoren dieser Studie folgerten, dass im letzteren Fall "das Leben insgesamt" in "das Leben jenseits der Partnerschaft" umgedeutet wurde, da der spezielle Aspekt Partnerschaft ja bereits beantwortet worden war (20).

Zusammengenommen können Fragen im Kontext ihre Bedeutung und damit die Antworten verändern - ein Effekt, der höchstwahrscheinlich auch in journalistischen Interviews oder Talkshow-Formaten auftritt. Auch hier ist Reihenfolge unvermeidlich, die Fragen müssen angeordnet werden – aber das Wissen um die hier angesprochenen Effekte kann helfen, ausgewogenere und nuanciertere Interviewbögen zu gestalten.

Reihenfolge im Storytelling

Die Choreografie einer Geschichte ist wahrscheinlich der Aspekt, der Journalistinnen und Journalisten am stärksten bewusst ist, wenn es um die Bedeutung von Reihenfolge und Anordnung geht. In journalistischen Kursen und in der Ausbildung wird gelehrt, dass sowohl der Anfang als auch der Schluss einer Geschichte mit großer Sorgfalt gestaltet werden müssen: Überschrift, Teaser und der erste Absatz (oder die ersten Sekunden) entscheiden darüber, ob das Publikum bei Dir bleibt; der Schlussteil bietet im Idealfall eine interessante Wendung und/oder hinterlässt ein Lächeln, etwas, das in Erinnerung bleibt. Wir haben gesehen, dass diese Leitlinien sich gut mit der psychologischen Forschung decken.

Bevor wir zu den Tools und Tipps kommen, möchten wir Deine Aufmerksamkeit noch kurz auf potenziell weniger offensichtliche Effekte lenken, z. B. wie die Arbeitsebenen interagieren und wie Reihenfolgeeffekte aus früheren Phasen - z. B. Recherche und Interview - Dein endgültiges Storytelling beeinflussen können, ohne dass Du Dir dessen unbedingt bewusst bist. Wir können davon ausgehen, dass sich ein Primacy-Effekt, der während der ersten Kontaktphase mit einem Thema entstanden ist, auf dynamische Weise fortsetzt und - wie oben beschrieben - nicht nur die Schlüsselwörter und andere Recherche-Entscheidungen, wie die Wahl der Interviewpartnerinnen, beeinflusst, sondern auch im weiteren Verlauf die Auswahl und Anordnung der Interviewfragen.

Der erste Gesamteindruck, den Du anhand dieser frühen Informationen gewonnen hast, wird sich auf die Konsistenz und die Vielfalt der weiteren Informationen auswirken, die Du recherchierst, wie z. B. Statistiken und andere Daten und Fakten oder Expertenstimmen, wodurch es wiederum wahrscheinlicher wird, dass dieser Aspekt in die finale Version aufgenommen wird oder dort sogar einen prominenten Platz erhält, z. B. in einem separat gesetzten Zitat, einem Foto oder einer Grafik. So kann ein kleiner Unterschied zu Beginn (oder zu einem späteren Zeitpunkt während des Sammelns und Auswählens von Material) eine Weiche stellen und die Richtung, in die eine Geschichte geht, subtil oder auch vollständig verändern.

Noch einmal: Anordnung, Reihenfolge ist unvermeidlich. Natürlich musst Du manche Fakten oder Stimmen zuerst, manche später und manche zuletzt präsentieren. Wenn Du jedoch darüber nachdenkst, wie diese Entscheidungen von den Reihenfolgeeffekten beeinflusst sein könnten, denen Du früher ausgesetzt warst, kann es Dir helfen, nicht selbst in eine Kette von Primacy-Effekten hineingezogen zu werden und Deinem Publikum eine ausgewogenere Informationsbasis zu bieten, auf der es sich seine eigenen Eindrücke und Urteile bilden kann.

Tools und Tipps: Wie Du dieses Wissen in Deiner täglichen journalistischen Praxis anwenden kannst

Denke an eine der Geschichten, an denen Du gerade arbeitest: Was hätte es für einen Unterschied gemacht, wenn Du zuerst erfahren hättest, was Du gerade erst herausgefunden hast? Welche Fragen hättest Du dann gestellt, wo und wie hättest Du nach Fakten und Daten recherchiert, mit wem hättest Du dann vorrangig gesprochen? Versuche zu reflektieren, wie möglicherweise Deine gesamte Strategie davon beeinflusst wurde, was Du als Erstes gehört hast oder mit wem Du zuerst Kontakt hattest. Welche Teile würdest Du erwägen wegzulassen, welche Schlussfolgerungen drängen sich stärker auf, wenn Du Dich als Gedankenexperiment einmal vollständig auf die Aspekte konzentrierst, die Du erst später erfahren hast?

Während der Recherche:

  • Wende diese Idee auf Orte an: Was hätte es für einen Unterschied gemacht, wenn Du den Ort zuerst besucht hättest, den Du zuletzt besucht hast? Hat Dein erster Eindruck, der sich aus dem "Gefühl" eines Ortes ergibt, Deine Herangehensweise an Orte verändert, die Du später besucht hast?

  • Wende sie auf Menschen an: Welchen Unterschied hätte es gemacht, wenn Du die Person oder Gruppe zuerst getroffen hättest, die Du später oder zuletzt getroffen hast? Hat Dein erster Eindruck von einer erst getroffenen Gruppe von Interessenvertretern eventuell Deine Herangehensweise an die Personen verändert, die Du später interviewt hast, und wenn ja, wie?

Bei der Planung und Durchführung von Interviews:

  • Überlege Dir die Reihenfolge der Fragen: Wie führst Du in Dein Thema ein, was implizierst Du mit der gewählten Reihenfolge der Fragen? Behandeln sie Aspekte auf der gleichen Abstraktionsebene oder zoomen sie hinein oder heraus und laden zu einer Neuinterpretation dessen ein, worauf sie sich beziehen?

  • Wenn Du eine Fernseh- oder Radiosendung mit mehreren Gästen moderierst, wen stellst Du zuerst vor, was nennst Du dabei zuerst? Mit wem sprichst Du danach, mit wem zum Schluss? Wie sieht eine mögliche faire oder in der Logik des Themas begründete Reihenfolge aus und wie kannst Du Reihenfolgeeffekte bei der Eindrucksbildung deines Publikums ausgleichen?

Im Storytelling:

  • Versuche, die Reihenfolge der präsentierten Standpunkte umzudrehen und spüre die Auswirkungen, die dieser Unterschied auf die Meinungsbildung Deines Publikums haben könnte.

  • Stelle die beiden Entwürfe kurz einem Kollegen oder einer Kollegin vor und frage nach dem Gesamteindruck, den die Geschichten hinterlassen. Im Idealfall lässt Du mehrere Leute beide Fassungen in unterschiedlicher Reihenfolge lesen (erst A, dann B, oder umgekehrt), denn auch hierbei kann es Primacy-Effekte geben.

In der Redaktion:

  • Fordert Euch in Eurem Team gegenseitig heraus, indem Ihr eine Geschichte auf den Kopf stellt oder ein Thema, an dem Ihr gemeinsam arbeitet, aus verschiedenen Richtungen angeht, um ein differenzierteres Gesamtbild zu erhalten.

  • Wendet es auf die Nachrichtenredaktion an: Wie verändern erste Meldungen eventuell die Interpretation oder Wirkung späterer Nachrichten zu einem verwandten Thema? Beeinflusst eine andere Anordnung die Bedeutung einer Meldung? Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn Wirtschafts- und Umweltnachrichten direkt nacheinander präsentiert werden.

Auf lange Sicht:

  • Wenn Du über ein Thema berichtest, das regelmäßig aktualisiert wird, vergiss nicht, von Zeit zu Zeit zu überlegen, ob der Kontext, den Du zu Anfang gewählt hast (basierend auf dem, was Du damals wusstest), noch immer Sinn ergibt, jetzt, wo Du über mehr Informationen verfügst. Vielleicht möchtest du Deinen Storytellingansatz neu justieren.

  • Denke darüber nach, wann Du in Deinem beruflichen oder privaten Leben bemerkt hast, dass der erste Eindruck, den Du von einer Person oder einem Ereignis gewonnen hast, zumindest teilweise falsch, ungerecht oder unvollständig war. Was hast Du zuerst "versucht", um ihn aufrechtzuerhalten, und was hat Dich schließlich dazu gebracht, deinen ersten Eindruck zu widerlegen, zu überwinden und zu ändern?

Welche weiteren Ideen hast Du, um Dein Wissen über Reihenfolgeeffekte in Deiner künftigen Arbeit auf konstruktive Weise zu nutzen?

Weitere Artikel zur Serie „Psychologie im Journalismus“ findest Du auf dieser Übersichtsseite.

Über die Autorinnen der Serie

Margarida Alpuim ist eine portugiesische Psychologin und Journalistin. Sie hat ihren Master in Gemeindepsychologie an der Universität von Miami absolviert und sich dabei auf Themen rund um kollektives Wohlbefinden konzentriert. Als Journalistin möchte Margarida konstruktivere Wege gehen, um Geschichten zu erzählen und dabei sowohl das Publikum als auch Fachleute berücksichtigen. Heute arbeitet Margarida von Lissabon aus an innovativen Projekten, um Psychologie und Journalismus zusammenzubringen.

Katja Ehrenberg ist promovierte Psychologin und Professorin an der Hochschule Fresenius in Köln. Seit bald 25 Jahren lehrt, forscht und publiziert sie zu anwendungsnahen Themen der Sozial-, Kommunikations-, Organisations- und Gesundheitspsychologie. Als freie systemische Beraterin begleitet sie Teams und Einzelpersonen und genießt es, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse für die unterschiedlichsten praktischen Herausforderungen im menschlichen (Arbeits-)Alltag nutzbar zu machen.

Literaturverzeichnis

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