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Serie

Verzerrtes Weltbild: Kognitive Filter und Denkfehler verstehen und vermeiden

Über Biases, Verzerrungen in der menschlichen Informationsverarbeitung - und wie Journalistinnen und Journalisten gegensteuern können: Teil 1 der Webserie "Psychologie im Journalismus" von Katja Ehrenberg und Margarida Alpuim.

Illustration eines Kopfes

Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wir sehen sie, wie wir sind.

Anaïs Nin

Was klingt interessanter? 13 von 1000 Asylsuchenden begehen in ihrem ersten Aufenthaltsjahr mindestens ein Verbrechen. Oder: 987 von 1000 Asylsuchenden führen ein gut angepasstes Leben? Was glaubst Du: Steigen die in der polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Fälle für Mord und Diebstahl in Deutschland seit einigen Jahrzehnten oder sind sie rückläufig? Und hast Du schon einmal einer Aussage vertraut, nur weil sie Dir bekannt vorkam?

Bei der Suche nach Informationen, der Beurteilung ihrer Relevanz oder bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten verlassen sich Menschen auf ihren Verstand. Was aber, wenn unser Verstand nicht so rational und objektiv ist, wie wir gerne glauben?

In dieser Auftaktfolge der Bonn-Institute-Serie „Psychologie im Journalismus“ stellen wir eine Auswahl kognitiver Verzerrungseffekte vor, die für die tägliche journalistische Arbeit von unmittelbarer Bedeutung sind. Sie beeinflussen,

  • was in einem komplexen Umfeld spontan Aufmerksamkeit auf sich zieht.
  • welche Informationen am besten verarbeitet und gespeichert werden.
  • wie Informationen im Lichte aktueller Überzeugungen und Ziele umgedeutet werden.
  • wie Menschen Risiken und Chancen bewerten.
  • wie vertrauenswürdig eine Information zu sein scheint.

Diese Effekte greifen nicht nur bei Mediennutzenden, sondern auch bei Journalistinnen und Journalisten, während sie recherchieren und Interviews führen, Kameras und Mikrofone ausrichten, das Ganze zusammenfügen und verpacken. Eine der wohl bekanntesten und am besten untersuchten Verzerrungen ist der so genannte Negativitätsbias.

Der Negativitätsbias - Ein mentaler Rauchmelder

Aufmerksamkeit ist ein kostbares Gut. Wir haben nicht beliebig viel davon und müssen daher in jedem gegebenen Moment Prioritäten setzen, im Zweifelsfall schnell. Insofern wundert es nicht, dass hier viele automatische Prozesse greifen, die beispielsweise lauten, grellen oder neuen Reizen Vorrang geben. In ähnlicher Weise werden negative, potenziell bedrohliche Informationen spontan eher beachtet als neutrale oder angenehme, mutmaßlich harmlose.

Kurz und bündig:

In Bezug auf die Informationsverarbeitung ist das Schlechte stärker als das Gute: Menschen schenken negativen Reizen mehr Aufmerksamkeit, nehmen sie schneller und leichter wahr, verarbeiten sie tiefer und erinnern sich besser an sie. Negative Ereignisse lösen stärkere physiologische und emotionale Reaktionen aus. Darüber hinaus haben negative Informationen in Experimenten mehr Einfluss auf Urteile und Entscheidungen, Eindrucksbildung und die Bewertung sozialer Beziehungen als neutrale oder gleich starke positiv bewertete Stimuli (1).

Eine negativ verzerrte Auswahl, Verarbeitung und Beurteilung von Information verändern auch die Kommunikation über ein Thema, beispielsweise die Wortwahl. Abgesehen davon, dass Journalistinnen und Journalisten selbst vom Negativitätsbias betroffen sind, dürften zwei zusätzliche Faktoren den Effekt im Journalismus verstärken:

  1. Das Wissen, dass negative Schlagzeilen gut funktionieren, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen.
  2. Das genaue Verfolgen dessen, worüber andere Medien berichten, was zusätzlich die redaktionelle Themensetzung und -platzierung beeinflusst.

Die genannten Aspekte stehen in einer dynamischen Wechselwirkung und führen über sich gegenseitig verstärkende Tendenzen zu einer "ewigen Dauerkrise" oder dem "täglichen Weltuntergang" in der Berichterstattung, wie Maren Urner diese Zusammenhänge in den Buchtiteln ihrer Bestseller (2, 3) anschaulich auf den Punkt bringt.

Beispiel für den Negativitätsbias bei Auswahl und Framing:

In der medialen Berichterstattung werden oft vereinfachende und voreingenommene Narrative verwendet, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Forscherinnenteam analysierte die Berichterstattung über den Hurrikan Katrina im Jahr 2005 in den Vereinigten Staaten und stellte fest, dass viele der in den Nachrichten verwendeten Formulierungen - größtenteils ohne jede verlässliche Faktengrundlage - selektiv auf negative Aspekte ausgerichtet waren (4). Die Medien beschworen fast bürgerkriegsähnliche Zustände herauf: Die betroffenen Menschen wurden entweder als marodierende, plündernde Horden oder als hilflose, schutzbedürftige Opfer dargestellt. Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die sich ruhig, vernünftig und solidarisch verhielten, wurde nach Ansicht der Autorinnen in der Berichterstattung ignoriert. Dies verletzt nicht nur die Verantwortung des Journalismus, ein möglichst wahrheitsgetreues Bild zu vermitteln; die Berichterstattung über lokale Initiativen hätte hier auch für andere Betroffene praktisch hilfreich und inspirierend sein können.

Negativitätsbias - Warum ist das so?

Die Allgemeingültigkeit und Robustheit des Negativitätsbias werden oft evolutionär erklärt (5). Diejenigen unserer Vorfahren, die schnell auf Anzeichen von Gefahr reagierten, hatten einfach einen Selektionsvorteil: Sie rannten weg, retteten ihr Leben und pflanzten sich glücklich weiter fort - auch wenn sie vielleicht gelegentlich überreagierten und unnötig davonliefen. Diejenigen, die weniger aufmerksam gegenüber Gefahrensignalen waren, fielen eher Raubtieren, Lawinen oder Überschwemmungen zum Opfer, was vermutlich dazu führte, dass dieses "entspannte" Gen im Laufe der Jahrtausende ausstarb.

Zugleich war es bereits für unsere steinzeitlichen Vorfahren elementar, Betrügerinnen und Betrüger zu erkennen, die sich nicht an die sozialen Regeln eines fairen Miteinanders hielten (6). Eine negative Handlung löscht hier 99 positive Erfahrungen aus. Manche Politiker oder Unternehmen haben auf die harte Art gelernt, dass es extrem schwierig ist, einmal verspieltes Vertrauen zurückzugewinnen - wenn es überhaupt gelingt.

Welche Folgen hat das?

Der Negativitätsbias führt nicht nur zu einem selektiv negativen Weltbild. Er hat auch Auswirkungen darauf, was wir fühlen, was wir denken und sogar wie wir denken und wie wir uns verhalten:

Emotional:

Negativität lässt uns nicht gut fühlen, ganz im Gegenteil. Die ständige Beschäftigung mit negativen Themen ist emotional belastend, sie macht Menschen traurig oder verärgert. Allerdings macht die Dosis das Gift - und das Framing: Verstehen wir die Hintergründe und Zusammenhänge eines negativen Ereignisses? Gibt es verschiedene Blickwinkel darauf, oder Ideen, was man tun könnte? Oder sind es nur schlechte Nachrichten, schlechte Nachrichten, schlechte Nachrichten und dann das Wetter? Untersuchungen zeigen, dass Berichte, die mögliche Lösungen beinhalten, die Menschen weniger ängstlich, deprimiert oder hilflos zurücklassen als Berichte, die sich nur auf die Probleme konzentrieren (7, 8).

Kognitiv:

Negative Emotionen beeinträchtigen auch die kognitiven Fähigkeiten, sowohl in der aktuellen Situation als auch langfristig, wenn sich entsprechende Erfahrungen häufen. Unter extremem Stress verengt sich unser Blickfeld, wir schalten buchstäblich in einen Tunnelblick. Negative Emotionen lassen uns eher auf Details als auf das große Ganze fokussieren, und der subjektiv wahrgenommene Handlungsspielraum ist begrenzter als bei guter Stimmung (9). Darüber hinaus leiden Konzentration und Gedächtnis, und die Fähigkeit, andere Perspektiven einzunehmen, wird gehemmt. Wir machen dicht und schalten ab, vermutlich um eine weitere Überreizung zu vermeiden.

Verhalten:

Infolgedessen werden wir weniger einfühlsam und sind weniger bereit, neue soziale Kontakte zu knüpfen (10). Auch sind wir weniger bereit, neue Dinge auszuprobieren: Wurden Menschen in einem Experiment vor die Wahl zwischen konventionellen und neuen, exotischen Snacks gestellt, waren Teilnehmende in negativer Stimmung weniger bereit, Neues zu probieren (11). Eine weitreichende Verhaltensfolge von newsbedingter negativer Stimmung ist die Nachrichtenvermeidung, wie der Reuters Digital News Report 2022 (12) erneut bestätigt – vermutlich ebenfalls ein Schutzmechanismus.

Confirmation Bias: Warum wir es lieben, Recht zu haben

Es ist ein gutes Gefühl, es doch gewusst zu haben - im Idealfall schon immer. Recht zu haben ist belohnend. Es vermittelt uns den Eindruck, klug zu sein und die Dinge im Griff zu haben. Ob wir tatsächlich Recht haben, scheint dabei weniger wichtig zu sein.

Kurz und bündig: Menschen bevorzugen Informationen, die ihre Ansicht bestätigen, von der anfänglichen Informationssuche über die Gewichtung und Interpretation bis zur Erinnerung. Außerdem werden Menschen recht kreativ, wenn es darum geht, Informationen so umzuinterpretieren, dass sie ihre Überzeugungen untermauern (14). Wenn dies nicht möglich ist, neigen sie zuweilen dazu, die Quelle als nicht vertrauenswürdig zu diskreditieren, vielleicht sogar als "Teil der Verschwörung". Im Allgemeinen bevorzugen Menschen Medien, die ihre Einstellungen widerspiegeln und dadurch verstärken (15).

Wenn Du als Journalistin oder Journalist eine Reportage planst und davon überzeugt bist, von Anfang an zu wissen, wer gut, wer schlecht und was hässlich ist, übersiehst Du möglicherweise leicht wesentliche Informationen, die Dir das Gegenteil beweisen könnten. Offene Augen und Ohren für abweichende, ja sogar widersprüchliche Belege machen Deinen Beitrag oft nuancierter und bringen ihn wahrscheinlich der Wahrheit näher.

Ähnlich wie der Negativitätsbias gehört der Bestätigungsbias zu den am besten erforschten Phänomenen der Kognitionswissenschaften. Ursprünglich zielten die Studien darauf ab zu zeigen, dass der Mensch von Natur aus nicht gut darin ist, Hypothesen angemessen, das heißt kritisch, zu prüfen. Gute Wissenschaft im Sinne von Sir Karl Popper verlangt, dass man versucht, sich selbst zu widerlegen (16). Stattdessen suchen Menschen vorzugsweise bestätigende Information, wenn sie Ideen prüfen. So geben beispielsweise Menschen, die gefragt werden "Sind Sie mit Ihrem sozialen Leben zufrieden?", eine größere Zufriedenheit an als diejenigen, die gefragt werden: "Sind Sie mit Ihrem sozialen Leben unzufrieden?" Es wird angenommen, dass Menschen auf so eine Frage hin selektiv Beispiele aus dem Gedächtnis abrufen, die zu dem passen, wonach sie gefragt werden – und wer sucht, der findet. So kann eine voreingenommene Frage ungewollt zu einer voreingenommenen Antwort führen, zumindest in Bereichen, die nicht völlig objektiv und konsistent sind (17). Auch dieser Effekt ist für journalistische Recherchen hochrelevant.

Confirmation Bias - Warum ist das so?

Wie bereits erwähnt, erfüllt das Gefühl Recht zu haben unser Bedürfnis nach einem hohen Selbstwertgefühl und unser Bedürfnis nach Kontrolle über die Umwelt, was wiederum psychologische Sicherheit bietet. Außerdem kostet die Verarbeitung von bestätigenden Informationen weniger kognitive Energie und ist daher angenehmer als die aufwändige Analyse und Integration neuer Sachverhalte. Die Verarbeitung von Informationen, die unserer Meinung widersprechen, löst im Gehirn emotionalen Stress aus, wie eine fMRI-Studie (19) zeigt.

Was folgt daraus?

Eine der Hauptfolgen des Confirmation Bias ist das übermäßige Vertrauen in die eigene verzerrte Weltsicht. Wenn eine selektive Suche ein paar bestätigende Fakten liefert und nicht bestätigende Fakten ignoriert oder als irrelevant verworfen werden, fühlt sich die eigene Sicht nicht mehr nur wie eine Meinung an. Es fühlt sich an, als würde sie auf Beweisen beruhen. Darüber hinaus können kleine Dosen von Gegenargumenten die Überzeugung Recht zu haben sogar bestärken. Denn das Finden von Erklärungen, die eine Diskrepanz auf letztlich wieder bestätigende Weise auflösen, wirkt wie eine Impfung für spätere "Angriffe" auf das eigene Weltbild (20).

Weitere Biases: Wenn Leichtigkeit es uns schwer macht

Bei journalistischen Recherchen bleibt oft wenig Zeit, was den Rückgriff auf sogenannte Heuristiken fördert. Diese gedanklichen Abkürzungen ermöglichen schnelle Schlussfolgerungen, funktionieren im Alltag meist hinreichend genau und erfordern nur minimalen kognitiven Aufwand. Manchmal führen sie uns jedoch in die Irre (21). Auf einige Heuristiken wird in späteren Ausgaben unserer Serie noch eingegangen, daher beschränken wir uns vorerst auf zwei:

  • Verfügbarkeitsheuristik: Erinnerst Du Dich an unsere Ausgangsfrage: Sind die polizeilich erfassten Mord- und Diebstahlraten in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eher gestiegen oder gesunken? Wenn man Menschen bittet, Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten zu schätzen, versuchen sie meist, relevante Einzelfälle aus dem Gedächtnis abzurufen. Einige sind sehr lebhaft in Erinnerung und daher gut "verfügbar", sie kommen leicht in den Sinn. Diese gefühlte Leichtigkeit des Abrufs führt uns zu der - unbegründeten - heuristischen Schlussfolgerung, dass es noch viel mehr solcher Beispiele geben muss, dass es also etwas Häufiges zu sein scheint (21). Da Morde und schwere Diebstähle Nachrichtenwert haben und - je nach den Rahmenbedingungen intensive - Medienberichterstattung mit sich bringen, entstehen lebendige, leicht verfügbare Erinnerungen und die Häufigkeit wird insgesamt überschätzt. Da neuere Ereignisse zudem besser erinnert werden als solche, die schon länger her sind, entsteht hier zusätzlich der Eindruck einer steigenden Kriminalitätsrate, obwohl die Zahlen seit vielen Jahren deutlich rückläufig sind (22).

So wirkt sich die Leichtigkeit des Abrufs aus dem Gedächtnis auf die Schätzungen von Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten aus. Darüber hinaus hat die Leichtigkeit der Wahrnehmung und Verarbeitung von Information Effekte auf deren subjektiven Wahrheitsgehalt und darauf, wie sie emotional bewertet werden:

  • Illusory Truth Effekt. "Sie werden versuchen, die Wahl zu stehlen. Sie haben die Wahl gestohlen. Sie haben die Wahl gestohlen!" Wenn Sie das oft genug sagen, werden die Leute es eher glauben. Das ist der Illusory Truth Effekt: Durch wiederholte Präsentation wird uns eine Information immer geläufiger, sie wird kognitiv leichter zu verarbeiten und fühlt sich vertraut an. Infolgedessen wird sie mit höherer Wahrscheinlichkeit als wahr eingeschätzt, selbst dann, wenn die Menschen es eigentlich besser wissen (23).

  • Da Gefühle von Geläufigkeit und Vertrautheit von Natur aus als angenehm erlebt werden, werden Menschen auch Reize (wie ein Logo, eine Melodie, oder eine Argumentationskette), die sie schon einmal gesehen oder gehört haben, lieber mögen als neue - der so genannte "mere exposure effect", der Effekt der bloßen Darbietung (24). Die einfache Strategie der wiederholten Darbietung wird häufig in der Politik oder von sonstigen Autoritäten und Institutionen genutzt, um andere zu überzeugen, ebenso in Marketing und Werbung, um Vertrautheit zu schaffen.

Für Journalistinnen und Journalisten gehört es zum Berufsrisiko, strategisch wiederholt Falschinformationen ausgesetzt zu sein. Ebenso besteht das Risiko, denjenigen eine Bühne zu bieten, die ihre eigenen „Wahrheiten“ wiederholen oder bloße Präsenz in der Berichterstattung suchen.

Der Dunning-Kruger-Effekt oder "Wir wissen nicht, was wir nicht wissen"

Und eines noch zum Schluss: Je weniger Menschen über ein Thema wissen, für desto sachkundiger halten sie sich. Die Ironie dieses nach seinen Entdeckern benannten Dunning-Kruger-Effekts (25) beruht auf der Tatsache, dass es ein gewisses Mindestmaß an Wissen und Verständnis erfordert, um die Fülle und Komplexität von Fakten und Kontextbedingungen in einem Themenfeld zu erfassen. Nur dann kann man mit Sokrates erkennen, dass man (noch immer fast) nichts weiß, während sich andere nach einem 10-minütigen Video für Experten halten. Der Dunning-Kruger-Effekt könnte zum Teil erklären, warum Menschen, die sich ihrer kognitiven Biases bewusst sind, viel bescheidener auftreten, wenn es um den Anspruch auf Objektivität geht - oder besser gesagt, warum andere zum Gegenteil neigen.

Tools und Tipps: Wie Du dieses Wissen in der journalistischen Praxis anwenden kannst

Wie Du dem Negativitäts-Bias entgegenwirken kannst

Stelle Dir vor, Du würdest während der Recherche eine Filterbrille tragen, die nur günstige Entwicklungen oder Lösungsansätze zeigt. Was würdest Du sehen? Beziehe zumindest einige dieser Aspekte in Deine Berichterstattung ein. Diese sind vielleicht kleiner oder erscheinen erst auf den zweiten Blick, aber sie können den Negativitätsbias ausgleichen. Das bedeutet keineswegs, dass Dein Beitrag die Realität beschönigen wird.

Er wird vielmehr ein vollständigeres Bild vermitteln: Probleme, die gelöst werden müssen, und Ideen für mögliche Lösungsansätze dazu. Die Darstellung von Beispielen (z. B. anderen Orten), wo die Dinge etwas besser laufen, kann sogar den Druck auf Politik oder Unternehmen erhöhen, die sonst gern argumentieren, dass es Sachzwänge gäbe und nun einmal nicht anders ginge.

Wie Du dem Confirmation Bias entgegenwirken kannst:

  • Was auch immer bisher die Essenz Deines Beitrags zu sein schien - ziehe das Gegenteil in Erwägung: Der Protagonist ist unschuldig; das Unternehmen meint es gut; das verrückte Kind hat Recht. Welche Art von Fragen würdest Du dann stellen, wohin würdest Du dann gehen, welche Statistiken würdest Du dann heranziehen? Diese Strategie ist auch als "Teufelsadvokat" bekannt. Stelle unerwartete und lösungsorientierte Fragen, um auch Deinen Quellen zu helfen, Negativitäts- oder Confirmation Bias zu vermeiden (Dazu das PDF "Wie stelle ich konstruktive Fragen?"). Das kann Deiner Geschichte eine interessante Wendung geben und ein nuancierteres, vollständigeres Bild zeichnen.
  • Mache es zu einem Ritual im Team, einem Teil der Redaktion den "Hut des Teufelsadvokaten" (oder ein anderes, symbolisches Maskottchen) zu geben. Deren Aufgabe ist es, unausgewogene Berichterstattung zu erkennen und sie mit "Positivitätsverzerrung" oder "Erwäge das Gegenteil"-Denk- und Rechercheanstößen zu hinterfragen, um Biases entgegenzuwirken. Wechsle monatlich ab, wer das übernimmt. Das kann Deine Denkweise flexibler machen, und belohnt Dich und Dein Publikum im besten Fall mit wahrheitsgetreueren Geschichten und inspirierenden neuen Perspektiven.
  • Umgebe Dich mit einer großen Vielfalt von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund. Welche Kontexte und Menschen könnten Dich davor bewahren, dass Du durch die ständige Wiederholung ähnlicher Ansichten in einer sozialen "Blase" der gegenseitigen Bestätigung und illusorischen Wahrheitseffekte landest? Überlege, wie sich verschiedene Dimensionen von Diversität in Deiner Redaktion günstig auf Perspektivenvielfalt bei der Themensetzung und Berichterstattung auswirken können.
  • Sei wachsam bei häufigen Wiederholungen von bestimmten Aussagen, wenn Du Debatten moderierst oder andere Formate veranstaltest, da manche das Podium für die Verbreitung von Scheinwahrheiten missbrauchen könnten.

Literaturverzeichnis

  1. Norris, C. J. (2021). The negativity bias, revisited: Evidence from neuroscience measures and an individual differences approach. Social Neuroscience, 16(1), 68-82.
  2. Urner, M.(2019). Schluss mit dem täglichen Weltuntergang: Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren. [Stop the daily apocalypse: How to fight back against the digital littering of our brains.] München: Droemer
  3. Urner, M. (2021). Raus aus der ewigen Dauerkrise. Mit dem Denken von morgen die Probleme von heute lösen. [Getting out of the eternal crisis. Solving today's problems with tomorrow's thinking.] München: Droemer.
  4. Tierney, K., Bevc, C., & Kuligowski, E. (2006). Metaphors matter: Disaster myths, media frames, and their consequences in Hurricane Katrina. The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 604(1), 57-81.
  5. Rozin, P., & Royzman, E. B. (2001). Negativity bias, negativity dominance, and contagion. Personality and Social Psychology Review, 5(4), 296-320.
  6. Cosmides, L., Tooby, J., Fiddick, L., & Bryant, G. A. (2005). Detecting cheaters. Trends in Cognitive Sciences, 9, 505-506.
  7. Curry, A., Stroud, N. J., & McGregor, S. (2016). Solutions journalism and news engagement. Engaging News Project/Annette Strauss Institute for Civic Life at the University of Texas Austin.
  8. McIntyre, K. E. (2015). Constructive Journalism: The Effects of Positive Emotions and Solutions Information in News Stories. Dissertation at the University of North Carolina at Chapel Hill.
  9. Fredrickson, B. L., & Branigan, C. (2005). Positive emotions broaden the scope of attention and thought‐action repertoires. Cognition & Emotion, 19, 313-332.
  10. Lyubomirsky, S., King, L., & Diener, E. (2005). The benefits of frequent positive affect: Does happiness lead to success? Psychological Bulletin, 131, 803-855.
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  16. Popper, K. R. (1963). Science as falsification. Conjectures and Refutations, 1, 33-39.
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  18. Cosmides, L. (1989). The logic of social exchange: Has natural selection shaped how humans reason? Studies with the Wason selection task. Cognition, 31, 187-276.
  19. Westen, D., Blagov, P. S., Harenski, K., Kilts, C., & Hamann, S. (2006). Neural bases of motivated reasoning: An fMRI study of emotional constraints on partisan political judgment in the 2004 U.S. Presidential election., Journal of Cognitive Neuroscience, 18, 1947–1958.
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  21. Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases: Biases in judgments reveal some heuristics of thinking under uncertainty. science, 185(4157), 1124-1131.
  22. Bundeskriminalamt (o. J.). Polizeiliche Kriminalstatistik. Online verfügbar unter: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html
  23. Fazio, L. K., Brashier, N. M., Payne, B. K., & Marsh, E. J. (2015). Knowledge does not protect against illusory truth. Journal of Experimental Psychology: General, 144, 993- 1002.
  24. Montoya, R. M., Horton, R. S., Vevea, J. L., Citkowicz, M., & Lauber, E. A. (2017). A re-examination of the mere exposure effect: The influence of repeated exposure on recognition, familiarity, and liking. Psychological Bulletin, 143, 459-498.
  25. Dunning, D. (2011). The Dunning–Kruger effect: On being ignorant of one's own ignorance. In Advances in Experimental Social Psychology, 44, 247-296.

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