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Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

In Europa herrscht Krieg. Trotzdem vermeiden immer mehr Menschen den Nachrichtenkonsum. Dabei brauchen unsere Demokratien gerade jetzt eine informierte Öffentlichkeit. Was können Journalistinnen und Journalisten tun, um die Menschen auch in Kriegszeiten zu erreichen?

Pressefotograf in Kampfhandlung

Abstract

In Krisen- und Kriegszeiten ist es wichtiger denn je, dass Menschen sich mit Hilfe faktengesicherter Angebote über das Nachrichtengeschehen informieren. Jedoch zeigen Studien derzeit weltweit eher gegenläufige Trends: nämlich sinkendes Nachrichteninteresse, abnehmendes Medienvertrauen und eine steigende Nachrichtenvermeidung. Ziel dieser Studie ist es, Journalistinnen und Journalisten praxistaugliche Erkenntnisse an die Hand zu geben, wie sie Kriegsberichterstattung entlang der Informationsbedürfnisse ihres Publikums so gestalten können, dass die Menschen nicht »abschalten«.

Wir gehen davon aus, dass konstruktive Ansätze im Journalismus das Potenzial besitzen, einer unangemessen negativen Weltsicht sowie dem Trend zur Nachrichtenvermeidung entgegenzuwirken. Um diese These zu überprüfen, haben wir im Rahmen einer qualitativen Studie leitfadengestützte Interviews mit Mediennutzenden geführt und sie zu ihren Bedürfnissen im Hinblick auf Kriegsberichterstattung befragt. Ebenso haben wir Journalistinnen und Journalisten aus unterschiedlichen Medien gefragt, inwiefern es aus ihrer Sicht in Kriegszeiten möglich ist, konstruktiv zu berichten und welche Rahmenbedingungen dafür nötig sind.

Allerdings sehen nicht alle befragten Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit, konstruktive Arbeitsweisen im Kontext von Kriegsberichterstattung anzuwenden. Während einigen dies als nicht machbar oder angemessen erscheint, sehen andere darin Chancen. Als hauptsächliche Hürden für neue, konstruktive Ansätze werden Zeitdruck und mangelnde Vielfalt in den Redaktionen sowie ein traditionelles journalistisches Selbstverständnis sowie Fortbildungsbedarf genannt.

Insgesamt bieten die Ergebnisse unserer Studie Anlass und Möglichkeiten, traditionelle Muster der Kriegsberichterstattung konstruktiv zu hinterfragen. Um den Praxischarakter dieser Studie zu unterstreichen, haben wir auf Basis der Gesprächsergebnisse eine Sammlung von kommentierten Good-Practice Beispielen erarbeitet.

Wie Mediennutzende Kriegsberichterstattung erleben

Die Gruppe der Mediennutzenden wurde hinsichtlich Alter, Geschlecht, Region und allgemeiner Lebensumstände möglichst divers zusammengestellt. Wir haben bewusst auch Mediennutzende einbezogen, die selbst Krieg und Flucht erlebt haben.

  • Der Großteil der Befragten beschreibt sich als grundsätzlich an Nachrichten interessiert und vertraut ganz überwiegend den Medienangeboten in Deutschland.
  • Fast alle Befragten berichten von psychischem Belastungserleben und einer sie belastenden Hilflosigkeit, insbesondere beim Anblick von Kriegsbildern.
  • Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrungen sind besonders davon betroffen.
  • Viele Befragte haben ihren Nachrichtenkonsum bewusst eingeschränkt.
  • Einige kritisieren eine gewisse Einseitigkeit und begrenzte Perspektivenvielfalt in der Berichterstattung.
  • Besonders Befragte mit Fluchterfahrung kritisieren die Verwendung von Stereotypen, etwa die Viktimisierung von Menschen im Krieg.

Wohnort und Alter der Mediennutzenden:

Wohnort der Mediennutzenden
Alter der Mediennutzenden

Wünsche von Mediennutzenden an Kriegsberichterstattung

  • Viele Befragte wünschen sich eine Berichterstattung, die möglichst verschiedene Sichtweisen und Lebensrealitäten abbildet.
  • Geschätzt werden Geschichten von vor Ort, die auch zeigen, wie es der Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten gelingt, Herausforderungen zu bewältigen.
  • Gefordert wird, dass Journalistinnen und Journalisten auf Augenhöhe mit Menschen sprechen – sowohl vor Ort, als auch in Diskussionssendungen.
  • Einige Befragte wünschen sich Beiträge darüber, was für den Frieden getan wird und wie man selbst helfen kann.
  • Transparenz im Hinblick auf die verwendeten Quellen ist ein wichtiges Thema.
  • Um Nachrichten besser verstehen zu können, wünschen sich Befragte weiterführende Informationen in Form von Links und eine einfache, verständliche Sprache in den Medien.
  • Einige erwähnen, dass sie sich einen sensiblen Umgang mit Bildmaterial oder Triggerwarnungen wünschen.
Grafik: Wünsche und Erwartungen von Mediennutzenden an konstruktive Kriegsberichterstattung
Wünsche und Erwartungen von Mediennutzenden an konstruktive Kriegsberichterstattung

Konstruktiv über Krieg berichten – (wie) kann das funktionieren?

Logos deutscher Medienanstalten und - Unternehmen

Unter den befragten Medienschaffenden sind feste und freie Journalistinnen und Journalisten, die entweder in deutschen Redaktionen arbeiten oder aber als Reporterinnen und Reporter praktische Erfahrung in der Krisen- und Kriegsberichterstattung haben. Auch im Hinblick auf diese Gruppe wurde auf Diversität hinsichtlich Geschlecht und beruflicher Rahmenbedingungen geachtet. Die Medienschaffenden wurden in Einzelinterviews befragt.

  • Konstruktive Ansätze können auch in der Kriegsberichterstattung funktionieren, sagt die Hälfte der befragten Journalistinnen und Journalisten. Einige fragen sich allerdings, ob dies im eigenen Kollegenkreis als angemessen wahrgenommen werden würde.
  • Lösungsorientierte Berichterstattung über Krieg erscheint vielen möglich, indem auch über Handlungsmöglichkeiten berichtet und Hoffnung sichtbar gemacht wird. Dazu zählten auch Berichterstattung über historische Vergleichsfälle und persönliche Geschichten, ohne jedoch zu romantisieren.
  • Beiträge über historische Hintergründe und Zusammenhänge werden als Chance gesehen, nuanciert zu berichten.
  • Als unerlässlich, um Komplexität ausreichend zu erfassen und eigene blinde Flecken zu entdecken, wird der direkte Austausch mit Menschen vor Ort gesehen. Mehrere Gesprächspartnerinnen fordern darüber hinaus, vom Krieg betroffene Menschen stets als handlungsfähige Individuen zu porträtieren.
  • Einigen Befragten war es wichtig zu betonen, dass Sprache im Kontext von Kriegs- und Krisenberichterstattung zur Aufrechterhaltung oder sogar Verschärfung von Konflikten beitragen könne. Als wichtig empfinden sie konkrete, sachliche Begriffe, die Vermeidung militärischer Begriffe.
  • Etwa die Hälfte der Befragten ist der Meinung, dass Bilder von Leichen und explizite Bilder von Gewalt in der Kriegsberichterstattung die Ausnahme darstellen sollten. Die andere Hälfte hält es gerade für wichtig, die Grausamkeiten des Krieges zu zeigen, damit deutlich werde, was vor Ort vor sich gehe. Vorsicht sei bei Symbolbildern geboten. Sie würden die Gefahr bergen, »Stereotype zu verstärken, zu verfestigen, überhaupt erst zu setzen«.

Chancen konstruktiver Kriegsberichterstattung aus Sicht von Journalistinnen und Journalisten

Grafik: Chancen konstruktiver Kriegsberichterstattung aus Sicht von Journalistinnen und Journalisten

Hindernisse für konstruktive Kriegsberichterstattung

  • Viele Medienschaffende berichten von eigenem Belastungserleben im Kontext von Kriegsberichterstattung. Manche haben ihren privaten Nachrichtenkonsum deshalb reduziert. Insbesondere diejenigen, die aus Kriegsgebieten berichten, sagen, es verändere die eigene Psyche, immer wieder mit menschlichem Leid konfrontiert zu werden.
  • Praktisch alle Befragten berichten von massivem Zeitdruck in ihrem Arbeitsalltag und befürchten Zusatzaufwand durch konstruktiven Journalismus. Manche diagnostizieren eine gewisse Veränderungsmüdigkeit, die aus zahlreichen Change-Prozessen der vergangenen Jahre resultiere. Beides erschwere das Experimentieren mit innovativen, nutzerzentrierten Ansätzen.
  • Nach Beobachtung unserer Befragten ist das journalistische Selbstverständnis in den Redaktionen noch weitgehend von der Überzeugung geprägt, es gebe Objektivität und absolute Neutralität im Journalismus, womit der vorherrschende Fokus auf Negativität gerechtfertigt werde (»Die Welt ist halt schlecht«).
  • Konstruktive Ansätze seien in den Redaktionen nicht verbreitet, weshalb es viele Missverständnisse gebe. So werde konstruktiver Journalismus häufig mit positivem Journalismus – »Good News« oder »Happy End Stories« – verwechselt.
  • Auch mangelnde Diversität sowie traditionelle Strukturen in den Redaktionen stünden einer perspektivenreichen, konstruktiven Berichterstattung immer wieder entgegen, so unsere Gesprächspartner.
  • Unsere Befragten sehen die Verantwortung dafür, einen konstruktiven Wandel auf der Arbeitsebene umzusetzen, vor allem auf Managementebene. Es sei Aufgabe von Führungskräften, günstigere Rahmenbedingungen sowie entsprechende Ressourcen bereitzustellen.
  • Darüber hinaus brauche es verstärkte Fortbildungsanstrengungen in den Redaktionen sowie mehr Forschung, die zeige, dass konstruktiver Journalismus erfolgreich zur Relevanz und Monetarisierung journalistischer Angebote beitragen könne.
  • Letztlich bedürfe es aber auch der Selbstreflexion einzelner Medienschaffender im Hinblick auf eigene Voreingenommenheiten und blinde Flecken (»Demut«). Nur dann könne konstruktive Berichterstattung gelingen.

Redaktionelle Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze aus Sicht von Journalistinnen und Journalisten

Grafik: Redaktionelle Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze aus Sicht von Journalistinnen und Journalisten

Good Practices

Welche Wünsche haben Mediennutzende an Kriegsberichterstattung und wie sehen gute Beispiele aus?

Wir haben in qualitativen und leitfadengestützten Interviews versucht, den Antworten auf diese Fragen näher zu kommen. Wir möchten Medienschaffenden anhand unserer Ergebnisse möglichst praxistaugliche Erkenntnisse an die Hand geben, wie sie Kriegsberichterstattung gestalten können. In diesem Sinne haben wir eine »Good Practice Sammlung« zusammengestellt. Welche Wünsche der Mediennutzenden dabei erfüllt werden und warum auch uns diese Beispiele gefallen, erfahrt ihr hier.

Zur »Good Practice Sammlung«

Download der kompletten Studie

Cover der Studie "Zwischen Wunsch und Wirklichkeit"

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Konstruktiver Journalismus in Kriegszeiten

Autorinnen:
Ellen Heinrichs, Katja Ehrenberg, Pauline Tillmann

Mitarbeit: Chiara Swenson

Studie des Bonn Institute – Stand Dezember 2022

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